Tag sechsundzwanzig

Diese Nacht war für mich eindeutig zu kurz als mich Joana mit Kaffee weckt. Ich erzähle ihr von Gestern. Auch, dass der Chef und Marco noch auf die Gäste gewartet haben als ich ankam. Joana hat schon Alles gesehen und auch schon mit der Lobby angefangen. Ich hab ihr gesagt, dass die Fahrt nicht zu schlimm war und ich Umwege gefahren bin. Joana muss gleich wieder los zur Arbeit und uns bleibt keine Zeit, etwas zu schwätzen. Zimmermädchen haben Arbeitszeiten, die mit denen von Bäckern vergleichbar sind, während wir Köche bis spät in die Nacht buckeln. Dadurch sehen wir uns relativ selten und meist viel zu kurz. Ein Familienleben mit Kindern wäre bei uns ausgeschlossen. Unser Kinder müssten praktisch fast erwachsen oder zumindest, selbstversorgend sein. Im Grunde lehnen wir es auch ab, Kinder in dieses Elend und in dieses System zu setzen. Sie würden allerhöchstens an irgendeiner Hungertheke oder in einem Krieg enden bei den gewissenlosen, kriminellen Regierungen im Kapitalismus. Wir wollen das Kindern nicht antun.

Als Kinder und Jugendliche konnten wir in der DDR, ohne Probleme, abends durch die Stadt laufen oder in eine Disco gehen. Wir wurden nicht von Menschen-, Drogen- und Organhändlern entführt oder sexuell missbraucht. Als Kind bin ich mal einhundert Kilometer weit getrampt und Keinen, außer meine Eltern, hat das wirklich ernsthaft interessiert. Im Gegenteil. Meine Fahrer waren eher hilfsbereit und fragten mich, wohin ich möchte. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, meine Kinder könnten heute das Gleiche tun wie ich. Schon gar nicht als Mädchen. Wir konnten mit vierzehn Jahren in einen Campingurlaub ohne Eltern fahren oder uns von unseren Eltern oder Nachbarn dahin bringen lassen. Heute ist das undenkbar. Die Kinder tun mir nur leid, die in so einem System aufwachsen. Die Kinder wachsen jetzt schon als Gefangene auf.

Unser Auto ist fast schneefrei. In der Nacht hat es nicht weiter geschneit, nachdem ich angekommen war. Es ist lediglich etwas kühler geworden. Ich rechne mit glatten Straßen den Reschen abwärts. Das Auto ist schnell warm. Schon an der Hauptstraße habe ich eine angenehme Temperatur drinnen. Auf der Hauptstraße herrscht immer noch oder schon wieder, reger Verkehr in beide Richtungen. Aus der italienischen Richtung kommen mehrheitlich italienische Touristen, während aus der österreichischen Richtung, deutsche, holländische und österreichische Fahrzeuge kommen. Mir scheint, die Holländer wären in der Mehrzahl. Alfred erwartet auch mehrheitlich, holländische Gäste. Der Straßendienst hat reichlich gesalzen und damit die Straßen eisfrei bekommen. Den Reschen herunter ist mir das schon recht so. Zumindest, bei dem Kurven schneidenden Gegenverkehr. Auf der rechten Straßenseite am Fels, liegen oft Schnee- und Steinabwürfe. Sozusagen, Minilawinen und zudem die Schneewälle des Winterdienstes. Die Abfahrt ist dadurch, hochgefährlich. Der mir entgegen kommende Verkehr wird von Fahrern gelenkt, die bereits mehrere hundert Kilometer oder mehr als zehn Stunden Fahrzeit hinter sich haben. Mir wird immer etwas mulmig dabei. Deren Reaktion und Lenkverhalten sind eigentlich untragbar für den Verkehr in alpinen Gegenden. Das erklärt auch die unglaublich vielen Unfälle in dem Zusammenhang. Eigentlich ließe sich der alpine Verkehr mit einem Pendelbusverkehr bewältigen. Die Touristen könnten dabei aber nicht den halben Garageninhalt auf ihrem Dachgepäckträger mitführten. Bei den Unfällen auf den Landstraßen bekommen wir diesen unglaublichen Müll zu Gesicht.

Es gab mal eine Zeit, da ist man mit einem Koffer verreist und hat vor Ort das gemietet, was zeitweise benutzt werden sollte. Zumal man dabei stets das Modernste benutzen konnte. In Zeiten des privat- und öffentlich, lautstark bebellten Pseudoumweltschutzes, verteilt sich der Müll einfach zeitweise auf die Keller und Garagen der einzelnen Haushalte. Dabei fühlt sich Jeder so richtig als Umweltschützer. Das ist eine dumme Großmaulkultur ein Reinform.

Endlich bin ich unten in Pfunds, wo die Straße etwas breiter wird. Richtung Samnaun steht der gesamte Verkehr wie in Richtung Reschen. Die Tiroler Polizei steht auf manchem Parkplatz und regelt den Verkehr in alle Richtungen. Ich habe freie Fahrt bis auf die Stellen, an denen Unfälle statt fanden. Bis Prutz waren es sieben. Meist an irgendwelchen Ab- und Einfahrten. Mir scheint, die Touristen aus einem Land, verstehen sich untereinander nicht mal beim Einfädeln. Dabei ist das umsetzen des Reißverschlusssystems, die Pflicht für jeden Verkehrsteilnehmer. Offensichtlich bringen es die vier Meter Vorsprung zum vermeintlich Ausgebremsten. Das ist wahrscheinlich der Sexersatz für hochverschuldete SUVfahrer.

In Richtung Kaunertal ist der Verkehr übersichtlich. Es gibt vorerst keinen Stau. In der Gegend, Höhe Kauns, ist eine Lawine abgegangen, die gerade geräumt wird. Das gibt einen kleinen Stau, der sich recht schnell auflöst. Der Kaunertaler Straßendienst scheint da schon Routine und auch die dafür nötige Technik zu haben.

So gegen elf Uhr bin ich heute schon da. Ich gehe in den unteren Betrieb zu meinen türkischen Kollegen. Die wundern sich über mein zeitiges Erscheinen und machen ihre Scherze wegen meiner Fahrroutine im Lawinengebiet. Eigentlich kann ich in schneereichen Gebirgsgebieten recht gut fahren. Nicht so routiniert und gut wie die Bewohner von Almen oder Pässen; aber es reicht zumindest, um relativ pünktlich, meine jeweiligen Winterarbeitsstellen zu erreichen.

Zusammen mit der Fahrzeit, bin ich im Winter allgemein, neben meinem Zwölfstundendienst, zwischen zwei und drei Stunden auf dem Arbeitsweg. Gerechnet in einer Sechstagewoche, sind das in etwa neunzig Stunden, die ich allein für eine Arbeit unterwegs bin. Besonders schlimm zeigt sich das, wenn man zu Zweit als Paar oder befreundet in Saison arbeitet. Ein Zimmermädchen arbeitet von früh bis Nachmittag. Oft ist auch ein geteilter Dienst fällig, wenn zum Beispiel noch aufgedeckt wird. Aufdecken ist praktisch das Garnieren des Bettes. Manchmal werden Pralinen oder Leckereien auf das Kopfkissen gelegt. Meist wird nur das Bett zurückgeschlagen oder eine Decke vom Federbett entfernt. Dazu wird überprüft, ob das Bad noch in Ordnung ist oder Bestandteile fehlen und ersetzt werden müssen. Entfällt das Aufdecken, sitzt das Zimmermädchen allein im Fremdenzimmer und wartet auf ihren Partner oder auf Freunde. Die Familie und das Zuhause fehlen.

Wenn ich so zeitig auf Arbeit bin, kann ich das Menü komplett oben in der Küche kochen. Es sind nur die Rohstoffe mitzuführen und darauf zu achten, nichts zu vergessen. Ich schaue auf den Menüplan und der ist für die Dependance recht übersichtlich:

Kürbiscremesuppe

Käsespätzle

Rindsroulade im eigenen Saft an Kartoffelknödel und Apfelrotkohl

Schokoladeneis auf Ananaskonfit

Rolf kommt in die Küche und sagt mir, bei mir sind sechs Anreisen, die das Menü mit essen. Normal müsste ich ihnen ein Wahlmenü anbieten und zubereiten. Wegen der Gruppe und wegen dem Feiertag entfällt das. Sonntags und feiertags wird bei Rolf ein Galamenü serviert. Das ist die beste Gelegenheit, mich mal meinen türkischen Kollegen vorzustellen.

Der Chefkoch stellt sich mit Ali vor und sein Stellvertreter mit Abti. Ich sage ihnen meinen Namen. Bei dem Plausch kommen auch einige Einzelheiten heraus, die mir Rolf nie gesagt hat. An meinem freien Tag vertritt mich oben, Abti. Am freien Tag von Ali vertrete ich ihn Unten und Abti ist Oben. Wenn Abti frei hat, helfe ich Ali, sozusagen als zweiter Koch. Nach der Zubereitung gehe ich dann mit dem fertigen Essen in die Zweigstelle. Im Grunde klingt das recht überzeugend und ich sehe keine Probleme mit meinen freundlichen Kollegen. Zunächst frage ich Ali, wo ich das Rouladenfleisch finde. Er sagt mir, es liegt für mich in der Gefrierzelle. Abti rennt sofort los und holt mir das Fleisch. Er kommt mit zwei Stück, fertig parierter, Oberschale wieder, die er richtig österreichisch, Kaiserteil nennt. Die Stücke sind fachlich so gut pariert, dass ich sie nach ganz kurzem Auftauen, ohne Verluste, direkt mit der Maschine schneiden kann. Die Kollegen haben das selbst eingefroren. Das Fleisch ist deshalb nicht zu steif und kann schnell verarbeitet werden. Ich danke meinen Kollegen dafür und sie schauen sich untereinander schmunzelnd an. „Ist das recht so, Meister?“, fragt mich Ali. Rolf hat ihm wahrscheinlich gesagt, ich wäre Meisterkoch und er zeugt mir dafür einen ehrlichen Respekt. Viele meiner Chefs und Kollegen erfüllt das mit einem gewissen Neid, der mitunter in einer Art, Böswilligkeit zum Ausdruck kommt. Die Böswilligkeit hat mitunter Ausmaße, die mit der Kriegspolitik der USA und ihrer Vasallen verglichen werden können. Man wird tagtäglich mit Beleidigungen, Erpressungen und Erniedrigungen konfrontiert. Irgendwie scheint das der Umgang von nichtarbeitenden Ausbeutern zu sein, die so ihre Faulheit und Unfähigkeit ausdrücken. Meist wird diese Lebensart, ausgerechnet von den Erben der Geschäftsgründer, zelebriert, die sehr oft, auf Kosten ihrer Eltern, Rechtswissenschaften studierten. So wird selbst das Recht zur Hure degradiert.